Es gab eine Zeit – so vor gut vier bis fünf Jahren – da hat sich mein übermüdetes Jungmutterherz im Stadium des maximalen Schlafentzugs nach eben jener Zeit gesehnt, in der ich frühmorgens vor dem Kinderbett stehen werde: Es ist noch finster und im Kissen schnarcht ein noch vom wildverlebten Vortag müder Lausbub. Das wird der nun fünf mal wöchentlich wiederkehrende Moment meiner süßen Rache: Schwungvoll werde ich das weiche Plümo vom Bett reißen und schadenfroh etwas von „Aufwachen! Die Sonne scheint!“ krähen. Mein Spross wird sich winden und die Augen reiben und etwas von „Ich will schlafen.“ jammern. Aber mit eben solcher Gnadenlosigkeit, mit welcher er mich als Kleinkind Tag für Tag gefühlt mitternächtlich aus meinem mehr als wohlverdienten Schlaf gerissen hat, werde ich solange auf seinem Bett herumspringen und jodeln, bis er schließlich schicksalsergeben aufsteht und die müden Knochen ins Bad und in den neuen, viel zu früh beginnenden Tag schleppt. So habe ich es mir ausgemalt. Immer und immer wieder.
Und jetzt das. Jetzt ist mein Kind seit knapp einem Monat ein ABC-Schütze. Der Wecker klingelt um kurz vor sechs. Ich krieche aus dem Bett und tappe hinüber ins Kinderzimmer. Dort schnauft unter einem blonden Lockenflaum, die Hände zu kleinen Fäusten geballt und die Decke kunstvoll um die schlacksigen Bubenbeine gewickelt ein Sinnbild für die unschuldige Schönheit des Schlafes. Am Vorabend ist er freiwillig um sieben in sein Bett gekrochen, hat nach fünf Minuten Vorlesen seine kleine Hand auf die Seite des Buches gelegt und etwas von „Das reicht jetzt, Mama“ gemurmelt, bevor er ohne ein Widerwort selig in den traumlosen Schlaf der Erschöpften sank. Und jetzt stehe ich barfuss fröstelnd im Herbstmorgen und es bricht mir fast das Herz, diesen heiligen Zustand des Bettwärmefriedens mutwillig stören zu müssen. Ich krame tief in den dunklen Ecken meiner Seele nach den Rachegelüsten, ziehe sie mühsam hervor – aber sobald sie dieses unschuldig ruhenden Menschleins gewahr werden, zerplatzen sie wie Seifenblasen im Nadelwald. Statt verdienterweise Vergeltung zu üben, plage ich mich nun Tag für Tag mit der schier unmöglichen Aufgabe, meinem Zwerglein ein möglichst sanftes aber dennoch Busfahrplan adäquates Aufwachen zu ermöglichen… Und statt genervt darauf zu reagieren, wenn er schluchzend und mit schweren Lidern beim Anziehen mit den widerspenstigen Socken kämpft, brennt mein Mutterherz vor Mitgefühl. Schließlich kenne ich diesen Schmerz nur allzu gut… Wenn er dann eine Stunde später fröhlich im Bus sitzt und sich darauf freut „heute endlich das T zu lernen“, seufze ich regelmäßig tief und freue mich ein wenig auf die Pubertät. Dann, wenn er nicht mehr so niedlich ist. Dann, ja, dann, kann ich es ihm bestimmt alles heimzahlen.
Müde setze ich mich abends vor den Fernseher. Ich drückte einen Knopf und lande in einem Nachrichtenprogramm. Fachkräftemangel, Probleme mit der Flüchtlingspolitik, Kim Jong Un und Trump liegen miteinander im Clinch, ein aggressiver Rottweiler beißt mehrere Menschen und wird daraufhin von der Polizei erschossen, weswegen die Beamten als feige tituliert werden. Ich reibe mir die Augen, zwinkere. Schon die nächste Meldung: Spätestens 2050 wäre es soweit: Bis dahin würde mehr Plastik in den Ozeanen schwimmen als Fische. Und darum sagt die EU jetzt dem Plastikmüll den Kampf an und verbietet… Strohhalme. Q-Tipps. Achja, und: Luftballonhalter. Ich überlege fieberhaft, wann ich das letzte mal einen Luftballonhalter im Meer hab schwimmen sehen. Mir fällt keine Gelegenheit ein. Aber klar. Zwischen all den Plastiktüten, Badelatschen und PET-Flaschen verschlüpft sich so etwas ja auch rasch einmal. Ich gähne und gehe in die Küche, um mir ein Stück Gurke zu holen, scheitere aber nachhaltig beim Öffnen der knallegen Plastikschweißfolie. Seufzend pule ich ein paar Gummibärchen aus ihrer knisternden Tüte und gehe zurück zum Fernseher. Hamburg. Ein erster Druchbruch in Sachen Luftreinhaltung. In der Hansestadt haben sie jetzt zwei viel befahrene Straßen in Altona für ältere Dieselfahrzeuge gesperrt. Zwei Straßen. Also nicht ganz. 580 Meter auf der Max-Brauer-Allee und 1,6 km auf der Stresemannstraße. Dort wo die Messtationen stehen und seit Jahren überschrittene Grenzwerte anzeigen, dürfen Diesel, die die Euro-6-Norm nicht erfüllen, nicht mehr durch, sondern müssen Umwege fahren. Mehr fahren, um Abgase zu sparen? Ich stutze. Wobei kontrollieren könne man es eh nicht wirklich, beruhigt ein Polizeibeamter. Man müsste ja jedes Fahrzeug anhalten und in die Fahrzeugpapiere schauen, dafür gäb es gar keine Kapazitäten. Als man schließlich meldet, der erschossene russische Journalist sei gar nicht erschossen worden, sondern wenn dann sei nur ein Schwein gestorben, oder besser gesagt, die Lache in der er gelegen habe sei nur Schweineblut gewesen und man habe ihn ermorden lassen, damit man die Drahtzieher hinter dem angeblichen Auftragsmord erwischen hätte können, wobei man ihn ja eben nicht ermordet, sondern nur so getan habe, um damit dann die echten Mörder, also die, die ihn ja jetzt nicht ermorden haben können, zu überführen, weswegen sie ja jetzt keine Mörder seien, zumindest nicht im Fall Babtschenko … bei dieser Meldung – schalte ich überfordert den Fernseher aus. Das ist mir alles zu absurd. Ich gehe ins Bett, um ein Buch zu lesen. Etwas Logischeres. Harry Potter. Oder Kafka.
Im ersten Moment ergriff mich eine lausbübische Freude: Da hat doch dieses Schlitzohr von einem Künstler wieder mal einen genial frechen Coup gelandet! Aber von vorne: Es gibt da doch diesen weltberühmten Streetart-Künstler namens Banksy, von dem man lediglich weiß, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mann ist, aus Bristol stammt und gerne Schablonengraffitis an urbanes Mauerwerk sprüht. Eines der berühmtesten Werke ist jenes mit dem Titel „Girl with Balloon“. Es zeigt ein kleines Mädchen, dem ein roter Luftballon in Form eines Herzens davonfliegt. Der Hype um den Künstler, von dem immer mal wieder einfach so irgendwo ein Werk auftauchen kann, hält nun schon seit Jahren an. Inzwischen werden seine Bilder für hohe Geldsummen versteigert. Dabei ist Banksy angeblich das ganze milliardenschwere Kunstmarkt-Gedöns äußerst zuwider – ein Grund dafür, warum er seine Kunst oft mittels Guerillia-Taktiken platziert. Zum Beispiel gerne mal unautorisiert in einem Museum. So marschierte er in die Londoner Tate Modern und pappte ein kleines selbstgefertigtes Ölgemälde neben Landschaftsmalereien aus dem 19. Jahrhundert. Sein Streich fiel eigentlich nur deshalb auf, weil der Kleber, den er benutzt hatte, nach ein paar Stunden aufgab und das Bild auf den Boden krachte. In den sozialen Medien freute er sich später dann darüber, dass eines seiner Bilder, wenn auch nur kurz, in einem der berühmtesten Museen der Welt gehangen hatte. Das Personal der Tate Modern hinterlegte das abgestürzte Bild übrigens bei den Fundsachen.
Solcherlei Späße mit der ach so ernsten Kunstwelt haben mich immer äußerst amüsiert, vor allem, weil ich Banksy seine Abneigung gegenüber der Kunst-Highsociety immer abgenommen habe. So er lies er beispielsweise als Kritik am Kunstmarkt seine inzwischen horrend teuer gehandelten Bilder zum Schleuderpreis von 60 Euro an einem New Yorker Strassenrand verkaufen. Aber jetzt hat er für Furore gesorgt, weil eine Kopie des Ballon-Mädchen-Bildes bei einer Sotheby‘s Versteigerung, in dem Moment, wo es für 1,2 Mio. Euro über den Ladentisch ging, sich selbst zur Hälfte schredderte. Im Rahmen war ein Mechanismus eingebaut, der das Bild einzog und als Streifen wieder ausspuckte. Banksy wollte damit angeblich die Versteigerung torpedieren. Aber. Lieber Banksy. Deine Idee geht nicht auf. Weil: Durch deinen plakativen Live Act, der dein Bild nicht einmal völlig zerstört hat, hast du den Wert dessen nicht ein Fitzelchen gemindert, sondern vervielfacht. Die Kunstwelt freut sich jetzt wie ein Schnitzel darüber, dass auf einer ihrer Auktionen nicht nur Kunst verkauft, sondern echte Kunst stattgefunden hat! Durch deine Aktion hast Du dein Kunstwerk überhaupt erst vollendet, und damit sozusagen Kunstgeschichte geschrieben – und zwar ausgerechnet dort, wo du nie dazugehören wolltest…
Oh, was war ich im zarten Alter von sechs bis zehn Jahren eine leidenschaftliche Blockflötistin. Anders als wohl viele Kinder, die in der Grundschule den Unterricht am Standard-Anfänger-Instrument als elterliche Kampfansage verstanden und mit Boykott reagierten, ging ich vor allem beim häuslichen Üben im Flötenspiel regelrecht auf. Ich liebte meine beige Kunststoffflöte, aus der stets früher oder später gurgelnd der Speichel troff. Die Möglichkeit meinen Ansichten und Gefühlen nicht nur verbal, sondern auch musikalisch Ausdruck zu verleihen, erfüllten mein hochemotionales Jungmädchenherz mit süßer Genugtuung – und die Ohren meines Publikums nicht selten mit schrillem Schmerz. Mein Großvater beispielsweise wünschte sich irgendwann einmal von mir, dass ich ihm zum Geburtstag nichts weiter zu schenken bräuchte, als auf das obligatorische Flötenständchen zu verzichten.
Es wurde wohl etwas erträglicher, als ich meinen Speichelfluss besser zu kontrollieren wusste und darum eine wohlklingendere Holzflöte bekam. Aber dennoch werde ich nie den gequälten Ausdruck meines Vaters vergessen, als er seinen Kopf in mein Zimmer streckte, in dem ich hingebungsvoll flötend den Refrain von „Hang down your head, Tom Dooley“ interpretierte, und meinte: „Sabine, zwei Stunden üben pro Tag reichen vollkommen.“
Der BGH sieht das laut eines Urteils vom 25. Oktober diesen Jahres etwas entspannter. Das Gremium sprach sich, anders als das Amts- und das Landesgericht zuvor, wohlwollend für das Recht eines am Staatstheater Augsburg engagierten Profitrompeters aus, auch zu Hause üben zu dürfen. Jahrelang lag dieser mit seinen Nachbarn im Streit, denen es vor allem um eins ging: dass „es leise ist“. Die niederen Instanzen verpassten dem Musiker strenge Auflagen: Musizier-Verbannung auf den Dachboden und häusliches Musikunterrichtverbot. Der Bundesgerichtshof aber erklärte nun als groben Richtwert bis zu drei Stunden wochentags und bis zu zwei Stunden an Feiertagen Musikmachen in privaten Wohnräumen – außerhalb der Ruhezeiten versteht sich – als absolut zulässig. Weil nämlich das häusliche Musizieren „einen wesentlichen Teil des Lebensinhalts bilden und von erheblicher Bedeutung für die Lebensfreude und das Gefühlsleben sein“ könne. Mein von ehemaligem Flötenspielenthusiasmus erfülltes Herz begann nachträglich vor Genugtuung zu hüpfen. Endlich jemand der mein in Flötenextase schwelgendes und bisher unverstandenes Kinder-Ich rehabilitiert. Damit konfrontiert, grinste mein Vater nur etwas gequält und erwiderte meine späte Gegenwehr damit, dass er gestern seinem fünfjährigen Enkel, meinem Sohn, feierlich eine Blockflöte überreichte.
Sie, die humanoide Roboterfrau, hat so einiges was Otto und Anna Normalverbraucher nicht haben: Zum Beispiel einen Reißverschluss im Nacken, einen Haufen Drähte, Platinen und Prozessoren unter der transparenten Schädeldecke, Kameras hinter der Iris und eine Haut, die sich ihre Erfinder unter dem Namen „Frubber“ (Kurzform von „flesh rubber“, also zu deutsch „Fleischgummi“) haben patentieren lassen. Kurzum: Sophia ist ein Roboter mit einer künstlichen Intelligenz, der zumindest, was das Gesicht angeht, äußert menschliche Züge hat. Sie kann 62 Mimiken imitieren, ihr Gegenüber wiedererkennen und relativ smart Konversation betreiben – das hat sie inzwischen in TV Shows, auf Messen und sogar wissenschaftlichen Podien bewiesen. Das meiste davon ist sicherlich Show, aber man kann sich einer gewissen Fasziniation nicht erwehren, wenn man gespannt auf die Regungen des Frubber-Gesichts starrt und der hallig-monotonen Robo-Stimme lauscht. Haben wir uns nicht gerade noch vor Schreck an den Nachos verschluckt, als Terminator alles niederpflügte? Haben wir nicht gerade noch herzhaft in die Sofadecke geschneuzt als Steven Spielbergs äußerst menschlicher und zu grenzenloser Liebe fähiger Kinderroboter David in A.I.– Künstliche Intelligenz von seiner Menschenmutter im Wald ausgesetzt wurde? Und es ist doch wirklich noch nicht lange her, dass wir nach dem Film Ex Machina misstrauisch unseren Kinositznachbarn inspiziert haben, oder? Jetzt steht da in Wirklichkeit eine Robotererfrau, die aussieht wie aus der aktuellsten Hollywood-Science-Fiction-Vision entflohen und erzählt Witze, nimmt Stellung zu wissenschaftlichen Themen und beantwortet Fragen bezüglich ihrer Gefühle. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, hat sich das technikaffine Königreich Saudi-Arabien einen ganz besonderen PR-Gag ausgedacht. Auf der Konferenz Future Investment Initiative in Riad verlieh man ihr die saudische Staatsbürgerschaft. Sophia bedankte sich artig und lächelte ihr etwas irres Fleischgummi-Hepburn-Lächeln. Irgendwie beides etwas geschmacklos. Ein weiblicher Hollywood-Ikonen-Zombie mit erschreckend selbstständig denkendem Computerhirn bekommt die souveräne Staatsbürgerschaft in einem Land verliehen, wo Frauen aus Fleisch und Blut bis vor kurzem noch vollverschleiert sein mussten und noch darauf warten, bis es ihnen endlich erlaubt wird, trotz ihres Geschlechts Auto fahren zu dürfen? Was kommt als nächstes? Verleiht man meinem smarten Navi jetzt dann eine ADAC-Ehrenmitgliedschaft? Oder dem neuen selbstdenkenden Thermomix-Modell drei Spitzenkoch-Michelin-Sterne? Oder übergibt man dem Logarythmus des Playstation-Spiels FIFA bald das Bundestraineramt? Ob das gut geht? Die Frage hat Sophia quasi schon selber beantwortet, als ihr eigener Erfinder sie im Spass fragte: „Sophia. Wirst du die Menschheit vernichten?“ Und sie prompt antwortete: „Nagut, ich werde die Menschheit vernichten.“