SABINE SCHREIBER

Und über alldem: Die Kreut

Wie ein Schiff auf einem Wellenkamm sitzt die Kreut Alm seit Jahrhunderten oberhalb des Kochelsees. Im Delta dreier Landkreise, mit eigener Quelle und wunderbaren Ländereien. Der Ausblick von der Panoramaterrasse: Ein Rembrandt ohne Rahmen

Ihm zu Füßen die Loisach im Tal. Der Kochelsee schickt seinen Abenddunst herauf. Eine Hand hat er auf die Reling am Bug seines Voralpendreimasters gelegt. Auf dem handbemalten Weißbierglas in seiner Rechten blickt Kollege König Ludwig hinüber in die Ferne. Die steinernen Wellenkämme Benediktenwand, Rabenkopf, Jochberg, Herzogstand grüßen vis-à-vis. Im Rücken: der Kaventsmann Heimgarten. Eines der originalsten Originale des Oberlands nimmt einen Schluck von seiner weißschäumenden Sundowner-Halbe vor einem fast zum Jodeln verleitend schönen Panorama. Olivier Streignart-Mayr, Kapitän der Kreut Alm.

Ich vermutete ein Ausflugslokal: Brauchtümelnd-authentisch, busladungsgerecht, sackrischbayerisch, mit Schweinshaxe und Pommesmampf, holladirüh mit Hansi Hinterseer im Anschlag. Stattdessen landete ich auf einer hollywoodesken Flying Dutchman mit magischer Besatzung, Klabautermann und vielen guten Geistern. Inzwischen sind wir allein auf der Kreut, auf dem Weg in den Sonnenuntergang. Der Wirt, ich, ein kaffeebrauner Hengst namens Casiol, Reste der Crew und im Bauch des Almschiffes die auf ewig emsig werkelnde Wirtin.

Die Weltmeere waren ihr Traum
Eigentlich wollte sie auf einem Kreuzfahrtschiff ihr Gastronomenblut und ihren Drang zur Freiheit versöhnen. Aber dann war sie mit 19 Jahren von der Hotelfachschule gerade zurück in der elterlichen Wirtschaft, da starb an einem Freitag den 13. die Mutter Wirtin. Von einer Sekunde auf die nächste war Marion Mayr, noch keine zwei Jahrzehnte alt, die Kommandantin einer uralten Institution. Seither steuert sie die Kreut mit sicherer Hand durch Gästeströme, eine Flut an Feiern und die Untiefen des Tagesgeschäfts. Und weil sie nur selten von Bord kann, nimmt sie sich einfach die Freiheit, die weite Welt zu sich einzuladen. Kaum einer, der ihrem Ruf nicht folgt.

Und rufen muss die Wirtin, denn direkt auf dem Weg liegt die Kreut Alm nicht – außer man befindet sich gerade auf einer der Panorama-Bergtouren zwischen Walchensee und Schlehdorf. Ansonsten muss man sie schon als Ziel haben, hinauf fahren von Großweil, am Freilichtmuseum Glentleiten vorbei, notfalls im zweiten Gang. Aber dann: Nach ein paar Schritten steht man unter Jahrhunderte alten Linden und kerngesunden Kastanien. Mir nichts, dir nichts hat man etwas Perlendes im Glas, der Wind rauscht in der Takelage, unterhalb wogt ein grünes Wiesenmeer und man fühlt sich wie der Herr über die Weltmeere – in einem Bilderbuchbiergarten hoch über dem Blauen Land.

Geschichtsträchtig und über tausend Jahre alt
Urkundliche Ersterwähnung der Schwaige Kreut, ein Viehhof außerhalb des Dorfes, 763. Lange beherbergte man dort, wo heute die Küche ist, eine stattliche Anzahl an Kühen, betrieb Landwirtschaft und lediglich nur eine kleine Gelegenheitsgastronomie für Wanderer. Erst 1970 nahmen die Wirtsleute Gustl und Inge Mayr all ihren Mut zusammen und einen saftigen Kredit auf. Sie verwandelten den abgelegenen Bauernhof in einen Alpengasthof, die dümpelnde Nussschale in eine stattliche Galeone. Mit der Straße kamen die Besucher und mit dem Renommee die Prominenz: Noch heute klabautert der Geist des Ehrengastes Franz Josef Strauß durch die Winkel der Kreut. Mit dem Hubschrauber kam er oft vorgeflogen, verzehrte Spanferkel, Blaukraut und Knödel und marschierte nach jeder Mahlzeit höchstpersönlich in die Küche, um sich zu bedanken. Im Jägerstüberl, das heute nach ihm benannt ist, hockte er viele Stunden an der Stirnseite des altehrwürdigen Tisches. Mit Schalk-Golodkowski. Josef März. Kartelte seine Geschäfte aus. Der hölzerne, in der Fensterlaibung hängende Nachtwächter trägt seit dieser Zeit ein wissendes Grinsen im Gesicht.

Krafttankstelle für Jedermann
An diesem Ort sei Platz für alles und jeden, solang er ihn zu schätzen wisse, betont der Wirt. Für bayerische Politprominenz ebenso wie für Mama-Papa-Kegel-und-Kind, schräge Vögel seien ebenso willkommen wie Anna und Otto. Jeder dürfe sich hier satt essen und sehen. Und dann zitiert er sehr frei nach Goethe: Zum Schauen geboren, Zum Sehen bestellt, Ach wie schön ist unsre Welt. Noch während man in lyrischer Betrachtung schwelgt, rumpelt ein dumpfes Grollen heran. Aber es ist kein aufziehender Sturm in Sicht. Das Donnern schwillt weiter an – und entpuppt sich als satter Motorensound. Die Wirtin selbst! Sie fährt ihre Schätze vor, eine burgunderrote Indian und eine blaue Harley namens Dicke Berta – eine 48 Panhead mit Handschaltung und Fußkupplung. Marion Mayr war eine der ersten, die Anfang der Neunziger ein Harley Treffen in Oberbayern organisierte, hier heroben auf der Kreut. Damals kamen die Biker zu Tausenden, feierten ausgelassen und einträchtig Schulter an Schulter mit den Einheimischen. Heute gibt es statt „Harley Glühen“ den „Indian Summer“: Ein geruhsames Fest mit buntgemischtem Publikum, prachtvollem Motorrad-Gerät vor der Haustür und geschmeidiger, musikalischer Umrahmung. Da treffen schon mal Steckerl-Eis-Kinder auf eine friedliche Abordnung Biker, um die sich dann der Oberkellner Dalibor am liebsten selber kümmert.

Dalibor, ein Mannsbild, ein echter Kellner
Immer Herr der Lage, stets einen kessen Spruch auf den Lippen, bringt er nimmermüde an langen Sommertagen auf vielen Kilometern das herrliche Essen, das die Chefin höchst persönlich zubereitet, mit starkem Arm zum Gast. Saftiges Wild, frischen Fisch, bayerische Fleischgerichte aus Großmutters Rezepteschatz, die Suppen, die Soßen selbst geköchelt, die Gewürze aus dem eigenen Steingarten. Der Rehbraten, den er mir kredenzt, zerfällt auf der Zunge und der Teller geht erst zurück als mit dem letzten  Brokkoliröschen das allerletzte Gran dunkelbrauner Soße vom Porzellan gewischt wurde. Pappsatt kann ich dem Kaiserschmarrn dennoch nicht widerstehen und sündige lustvoll.

Und dann poltert es doch noch am spätsommerlichen Himmel.  Emsig eilt die Mannschaft und macht die Kreut sturmfest, rettet die Tischdecken (Klar zum Bergen der Fock!) und der Captain bittet mich ins Innere. Während draußen die ersten schweren Tropfen auf die Planken platschen, erkunde ich das Innenleben der Kreut.

Bleibt noch die Tenne. Und die Black Pearl!
Il Kommandante Olivier führt mich durch die Bauernstube, am Strauß-, Alm- und Lärchenstüberl vorbei, hinauf in die mächtige Tenne – neben dem Biergarten mit dem Rembrandt-Ausblick das Herzstück der Kreut Alm. Hier wird gefeiert, getanzt, musiziert. Und danach – wer es aushält bis zum Schluss – der wird achtern noch eingeladen in das kleine Beiboot: In Reminiszenz an den Hollywood Piraten Captain Jack Sparrow „Black Pearl“ genannt. Während in der Tenne die Kellner dann schon die Tische wischen, schenkt Wirt Olivier in seinem liebevoll zur Spelunke umgebauten Schupfen noch einen Heurigen aus. Hier sitze ich jetzt, bei einem letzten Glas, höre dem Käpt‘n beim alpenländischem Seemannsgarn-Spinnen zu und spüre das leichte Wanken der Wogen unter dem Kiel von Flying Kreut und Black Pearl…

MeiDahoam Magazin 3/2016

 

 

Interview

Der Rosserer und die Harley-Braut

Die Wirtsleute der Kreut Alm sind so besonders wie der Ort, an welchem sie wirken. Beide sind echte Arbeitstiere, freiheitsliebend und sympathisch speziell. Ein Gespräch mit zwei echten Charakterköpfen

Marion, Du fährst Motorrad und Du, Oli, sitzt hoch zu Ross. Ist das nicht normalerweise andersherum?

Marion: Ja. Sicher. Sonst sitzt die Tussi auf dem Gaul. Aber ich fahre, seit ich 18 bin, Motorrad. Meine erste Maschine war eine BMW 800 GS, auf eine 1000er aufgemacht. Und dann hat mich der Harley Sound gerufen.

Oli: Und ich bin ein Rosserer. Ich gehör‘ auf ein Pferd. Nicht umsonst war ich jahrelang Berater für die berittene Polizei des mexikanischen Bundesstaats Guerrero. Ich bin ein Pferdemann, ein Vaqueiro!

Oha! Und wie kommt ein Vaqueiro auf die Kreut Alm?

Oli: Das Heimweh war ein schlimmes Bauchweh. Ich musste zurück. Ich komme ja ursprünglich aus einem Wirtshaus aus Garmisch. Und jetzt bin ich hier der Patrone, der Bauer vom Hof.

Marion, du bist hier geboren…

Marion: Genau. Hier auf der Kreut Alm. Wie mein Vater und mein Großvater auch schon. Mein Leben ist mit jedem Winkel hier verwoben. Ich kann mich noch erinnern, dass da, wo jetzt die Küche ist, früher 60 Kälber standen. Das Kochen habe ich von meiner Großmutter Viktoria gelernt.

Was ist die Kreut für Euch?

Marion: Meine Heimat. Mein geliebter goldener Käfig mit Ausblick. Meine über alles geliebte Kreut.

Oli: Die Kreut ist eine lang gewachsene Institution. Ein Energieplatz, an dem Geschöpfe aller Couleurs zusammenkommen können. Hier kann man Energie tanken, Momente des Schönen genießen, wenn man es zulässt. Ich bin ja hier nicht nur der Wirt. Ich bin der Energietankstellenwart.

 

X