Text Kugelblitze

Kugelblitze!

schräge Phänomene in Oberlaindern

beschrieben von Sabine Schreiber

Zugegeben, ob es jetzt da wirklich des Öfteren Kugelblitze zu beobachten gab – das kann ich nicht beweisen. Aber wenn ich im Auto mit meinen Eltern von Hausham nach Holzkirchen gefahren bin, um die Oma zu besuchen, da kamen wir regelmäßig an einem wilden Gestell vorbei: Wie große Fischernetze hingen Drähte an 5 weiß-roten Masten, die sich majestätisch und über 100 Meter hoch in den bayerischen Himmel bohrten. Fragte das Kind damals in den 90ern die Eltern, was das denn bitte sei, bekam man je nach Laune der Erzeuger·innen Antworten wie: „Sendemasten.“ Oder aber „Sendemasten.“ Fragte man aber penetrant weiter, was denn bitteschön diese Masten senden würden, wurde durchaus schon einmal erklärt, dass diese Masten zu einem Radiosender der Amerikaner gehören würden. „So sieht also Radio aus…“, dachte sich die kleine Sabine in den 90er Jahren – und erst einmal nichts weiter. Aber dann tauchte plötzlich am Rand der Straße und der Senderanlage eine große – sehr große – Skulptur auf. Ein Mensch, der auf seine Bettkante sitzt, das Federbett zerwühlt, den Kopf in die Hände gestützt. Schneeweiß und quasi die Inkarnation des schlechten Schlafs. Natürlich fragten dann die Kinder vom Rücksitz wieder, was das denn bitteschön sei. Inzwischen – fast 36 jährig – weiß ich es und kann Euch zumindest aus der persönlichen Entfernung die Geschichte erzählen. Natürlich nur so, wie ich sie persönlich verstanden habe – Menschen mit mehr Detailkenntnis bitte ich um Nachsicht und im besten Falle um Ergänzung im Kontext dieses Projekts.

Also: Anfang der 1950er Jahre ging auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Oberlaindern eine Rundfunksendeanlage der USA in Betrieb. Genauer: Das International Broadcasting Bureau, kurz IBB, strahlte von da an fröhlich und intensiv Nachrichten in den diversen Sprachen osteuropäischer Länder ziemlich eindeutig und gerichtet mit Mittel- und Kurzwelle penetrant nach Osten. Vor allem während des Kalten Krieges sollten die Menschen mit Freiheitsbedürfnis mit News aus dem Westen versorgt werden. Am Rand von Holzkirchen war also eine Einrichtung stationiert, die sich um die Befreiung der Völker Russlands zu kümmern hatte. „Radio Free Europe“ und später „Radio Liberty“ hatte seine Hauptgeschäftsstelle in München und sendete u.a. via „Fischernetze“ und rot-weißer Masten in Oberlaindern bei Holzkirchen. Ob jetzt da der Geheimdienst CIA Propaganda betrieben hat und inwiefern das okay war oder eben njet – ist eine andere Geschichte. Aber was für Holzkirchen von elementarem Interesse war, ist die Tatsache, dass die Menschen, die in der nächsten Nähe der Sendeanlage lebten – also dort, wo sich heute ein recht schicker Golfplatz erstreckt – auch des Öfteren in den Genuss des Radioprogramms kamen. Und zwar nicht unbedingt freiwillig und auch nicht in dem Maße, wie es vielleicht angemessen gewesen wäre.

Frau X räumt das Abendessen auf und auf einmal schnarren Stimmen und Musik durch die Küche – aber nicht aus ihrem Radio, sondern eindeutig aus dem Spülbecken. Herr Y taucht genüsslich in sein wohlverdientes Feierabend-Bad ein und steht auf einmal senkrecht in der Badewanne. Denn aus dem Lavendel und Latschenkieferschaum erklären ihm Stimmen in tschechischem Zungenschlag das Neuste aus der westlichen Welt. Der Kirchenvorstand ist sich auch einig: Mit der elektrischen Orgel in der Kirche kann es nicht weitergehen – zu den unmöglichsten Momenten schaltet sich dadurch nämlich „Radio Liberty“ in die Gottesdienste mit ein. Man beschließt in ein mechanisches Modell für die Korbinianskirche zu investieren. Auch die Freude darüber, dass die teure Heimorgel regelmäßig gegen 19 Uhr selbstständig anfängt Russisch zu sprechen, hält sich in manch einem Haushalt eher in Grenzen. Kaum jemand im Umkreis des Senders bleibt verschont. Hier sprechen auf einmal die Kochtöpfe, dort brabbelt das Telefon. Hier hickst der Toaster, dort jammert der Ofen. Und bei Gewitter mag der ein oder andere des Öfteren eigentlich äußerst seltene Phänomene wie Kugelblitze und voralpine Elmsfeuer an den Sendemasten beobachtet haben.

So störend, so gut. Oder eben auch nicht. Wenn es bei den gesprächigen Elektrogeräten, elektromagnetischen Lichtphänomenen und vibrierenden Badewässern geblieben wäre. Aber leider wurden auch die Menschen rundherum krank, so die Empirie. Die Wissenschaft und Statistik ist in diesem Punkt nicht sofort mit einer eindeutigen Bestätigung dabei. Aber wie auch. Handelte es sich ja auch „nur“ um ca. 200 Menschen rundherum. Auf jeden Fall zeigte die Empirie, dass die Leute in Oberlaindern erstens genervt und zweitens krank wurden. Das Schlafen fiel schwer. Kinder schwitzten des nachts regelmäßig die Betten pattschnass. Die Eltern und Großeltern konnten gar nicht erst einschlafen – außer sie verlegten die Schlafzimmer in den Keller. Migräne breitete sich aus, man war chronisch müde, die Ohren sausten, das Herz kam aus dem Takt – und in nahezu jedem Haushalt erkrankte jemand schwer an Krebs. Und nicht nur die Alten. Die Vermutung lag nahe, dass die 1 Million Watt Sendeleistung nicht ganz ohne Konsequenzen für die nähere Umgebung die Freiheit gen Osten verkündete.

Jetzt ist es natürlich schon so, dass man vor allem in der heutigen Zeit der Handys, des W-Lan und der mobilen Daten vorsichtig sein muss in der Verteufelung des „Elektrosmog“. Und auskennen mit Magnetfeldern und Wellen und den Auswirkungen en Detail tu ich mich freilich auch nicht. Mir geht es gut, trotz jahrelangen Handy- und WLAN-Konsums und ich genieße gerne beides. Verschwörungsmythen mag ich nicht gern befeuern. Liest man ein bisschen in der Berichterstattung nach, scheinen die Menschen in Oberlaindern dann doch irgendwie gesünder und zufriedener zu sein, seit sich ein Golfplatz und keine Senderanlage vor ihren Haustüren erstreckt. Auch die Kugelblitze scheint niemand zu vermissen…