Pianistin auf hoher See
Mitten im Wohnzimmer steht ein Prachtstück von einem Flügel: schwarz glänzend, majestätisch. Rundherum kuscheln sich drei Katzen mit dickem Winterfell, während vor den großen Fenstern im winterlichen Garten ein lebensgroßer David steht – nackt trotzt das steinerne Mannsbild den eisigen Temperaturen. Als die Herrin des Hauses sich am Flügel niederlässt und ihre Finger über die Tasten fliegen, perlt die vertraute Melodielinie von „Un homme et une femme“ wie eine musikalische Brandung durch das wohlig warme Parterre in Bad Aibling und spült Rhythmus und Nostalgie in Herz und Hirn. Das Knie wippt, der Finger tippt, Entspannung macht sich breit – so lässt es sich aushalten.
Es ist eine ganz eigene Disziplin in der Susi Weiss, die Dame mit dem Flügel im Wohnzimmer, agiert und brilliert: die gepflegte Barpiano-Musik; ein Genre, das seine Blütezeit in den 20er bis 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte und heute im Schatten von Beschallung durch elektronisch konservierte Musik nahezu in Vergessenheit geraten ist. In Liebhaber- und Kennerkreisen sowie überall dort, wo auf glamourösen Genuß und stilvolles Ambiente Wert gelegt wird, findet man allerdings auch heute noch die rare Spezies der Barpianisten. Eigentlich ist es eine absolute Männerdomäne – umso interessanter einmal einer Frau zu begegnen, die sich schon seit Anbeginn ihrer Karriere dieser Profession verschrieben hat.
„Ich bin nicht, wie manch einer vielleicht denken mag, eine verhinderte Konzertpianistin, die es einfach nie auf die großen Bühnen geschafft hat. Ich liebe die Art von Musik, die ich spiele – Stücke mit einer gewissen Leichtigkeit und absolutem Wiedererkennungswert.“ Ihr fester Blick aus blaugrauen Augen vermittelt Klarheit und Selbstbewusstsein. Diese Frau ging von Anfang an ihren eigenen Weg – erhaben über Vorurteile und etwaige Widerstände. Das begann schon damit, dass sie als Kind nicht wie gewünscht Akkordeon lernen wollte, sondern stattdessen lieber auf den in einem Notenheft abgedruckten Tasten herumdrückte. Also bekam die jüngste von drei Schwestern eben ein Klavier.
Der Standardklavierunterricht reichte ihr dann allerdings nicht aus: „Ich wollte einfach vernünftig Klavierspielen können und bin daher ans Konservatorium in Augsburg – ohne allerdings eine klassische Karriere jemals auch nur in Erwägung zu ziehen.“ Stattdessen gründete sie zusammen mit einer Kollegin schon als junge Frau eine kleine Musikschule im bayerischen Bruckmühl und wartete darauf, dass sich ihr eine Möglichkeit bot, ihren Traum zum Beruf zu machen. Das Schicksal ließ sie nicht lange warten: 1985 – da war sie gerade 21 – inserierte das renommierte Rosenheimer Jazzlokal Le Pirate das Gesuch nach einem Barpianisten. Susi Weiss nahm sich ein Herz, bewarb sich – und bekam den Job. Über Jahre spielte sie dort jeden Sonntag. Bis aus den Barpiano-Abenden die berühmt-berüchtigten Jam-Sessions mit den damals noch unbekannten, aber heute umso erfolgreicheren Musikern wie Mulo Francel von Quadro Nuevo wurden.
„Meine Eltern haben natürlich gezetert: Spiel bloß nicht in Bars! Da kommst du nur unter die Räder! Dabei ist das Le Pirate ja ein wundervolles Lokal, weit entfernt vom anrüchigen Milieu.“, erzählt sie mit einem Anflug von Nostalgie im Blick. Trotz der Zweifel ihrer Eltern sollte es ihr Weg werden: Innerhalb kürzester Zeit hatte die junge Frau am Klavier die Woche voll mit Engagements. Sie spielte überall dort, wo man ihre luftig-leichte Musik, die im positiven Sinne weit vom allzu strengen Klassikkonzertkorsett entfernt ist, zu schätzen wusste. Doch auch diese neueroberte Welt wurde ihr mit der Zeit zu eng. Sie suchte sich erneut „einen Weg hinaus vor die Tür“: Anfang der 90er Jahre bewarb sie sich kurzerhand bei einer noblen Kreuzfahrt-Reederei und bekam prompt eine Antwort: „Eigentlich ein Wunder, angesichts der unglaublichen Menge an Demobändern, die ein solches Unternehmen tagtäglich zugeschickt bekommt. Vielleicht zog da ein bisschen der Frauen-Bonus, denn auf dem Foto, das ich mitgeschickt hatte, habe ich eigentlich ganz nett ausgesehen.“, räsonniert sie voll sympathischem Understatement.
Genau diese Art der zurückhaltenden Genügsamkeit ist es, was ein guter Barpianist in seinem Beruf bis zur Perfektion auszuleben bereit sein muss. Nicht im Fokus der allgemeinen, ungeteilten Aufmerksamkeit zu stehen. Nicht jeden Abend standing ovation zu genießen. Sondern: Dezent zu spielen, einen Klangteppich zu erschaffen für ein Publikum, das ins Gespräch oder ins Essen vertieft ist, Stimmungen aufzufangen und in der Musik widerszuspiegeln, sanft ins Unbewusste der Zuhörer zu spazieren und mit vertrauten Klängen und Evergreens vorsichtig an Seelensaiten zu zupfen. Natürlich reicht es nicht, die immer selben Gassenhauer in grober Manier ins Piano zu dreschen. Ganz im Gegenteil: Auch wenn die Musik, die Susi Weiss so liebt und die sie perfekt interpretieren kann, unter dem Label easy listening geführt wird – easy playing ist etwas völlig anderes.
Für den Geschmack der Kreuzfahrtprofis hatte sie als junge Frau das gewisse Händchen und das Gespür für anspruchsvolle Unterhaltung: Nach einer erfolgreichen Probefahrt auf der Donau durfte sie ab 1992 mit auf die großen Touren und bereiste als Barpianistin an Bord des bekannten ZDF Traumschiffes für über 20 Jahre fast die ganze Welt. Sie durchkreuzte die Weltmeere, badete an Traumstränden, bewunderte Sankt Petersburg und Shanghai, lernte ihren Mann an Bord kennen und erlebte auch den ein oder anderen Sturm. „Man muss schon einige Qualitäten mitbringen, um das durchzuhalten. Man kann noch so gut spielen, wenn man nicht seefest ist, hat keiner etwas davon.“ Auch das Repertoire dürfe nicht zu schmal bestückt sein – schließlich spiele man quasi immer vor dem selben Publikum.
Die Bandbreite ist inzwischen kein Problem mehr für die Pianistin. Susi Weiss kommt heute auf gut 20 Stunden Musik jeglicher Couleur, die sie nonstop und auswendig zum Besten geben könnte: „Als guter Barpianist kannst Du nicht dauernd nach Noten kramen. Du musst zeitnah auf die Stimmung im Raum reagieren. Wenn man das Gefühl hat, jetzt wäre dieses bestimmte Stück genau richtig, kann man nicht erst anfangen die Noten zu suchen.“, sagt sie und beginnt von ihrem zweiten leidenschaftlich verfolgten Standbein zu erzählen: ihrer Etablierung als Notenbuchautorin. Bei dieser Arbeit könne sie sich ausprobieren, ausgefallene Titel suchen und für interessierte Klavierspieler aufbereiten: „In dem Moment, in dem ich aufschreibe, was ich als Barpianistin improvisieren würde, vollziehe ich einen kompositorischen Akt.“ Ein kreativer und erfüllender Ausgleich für eine gleichermaßen stolze als auch genügsame Frau, die als Barpianistin oft genug erlebt, dass „die Leute auch einmal nicht klatschen oder der Abend ohne Resonanz verpufft. Damit muss man leben können in meinem Beruf. Grundsätzlich muss man voll Leidenschaft für sich selbst spielen.“
Sagt’s und verschwindet für die nächsten zwanzig Minuten – oder waren es hundertzwanzig? – in einer Wolke aus Melodie und Nostalgie.
pressewoche