Die versunkene Burg
nach einer Sage aus dem Tölzer Land
neu erzählt von Sabine Schreiber
Wer kennt ihn nicht, den sagenhaft schönen Kirchsee…. Aus der ganzen Umgebung kommen die Leut bei schönem Wetter angefahren, um im warmen Wasser des Moorsees zu baden. Als Kind war ich oft mit meiner Großmutter dort – meistens verbunden mit der kleinen Wanderung von der Klosterseite her durchs Moor und zu dem etwas weniger stark frequentierten Badeufer an der Südseite. Oft hab ich meine Kinderfüße in den See hängen lassen und mich über die rostrotorange Farbe des Wassers gewundert, das manchmal im Licht geblinkt hat wie Bernstein, um dunkelrot wie Blut zu dräuen, wenn sich eine Wolke vor die Sonne geschoben hat. Oder wenn sich die Sonne langsam tiefer geneigt hat. Dann hat die Oma gesagt: „Jetzt müss’ ma schauen, dass wir heim kommen. Wenn der See so bluatig wird, dann kommen gleich die Mucken.“ Da hab selbst ich nicht mehr getrödelt, denn die Mücken am Kirchsee sind von einem gewaltigen Kaliber. Wenn die dich erwischen, hast lang eine Freud mit juckenden Binkeln von der Größe eines Tischtennisballs. Wenn wir dann zurück marschiert sind, durch das von der Abendsonne gülden beleuchtete Moor und den freundlich-lichten Wald, hab ich mir oft vorgestellt, der See würde, sobald die Sonne ihn nicht mehr bescheine, tatsächlich zu Blut. Angenehm geschaudert hat es mich als Kind bei der Vorstellung, was zu so einem Fluch geführt haben könnt. Als echte Leseratz hab ich schon im Grundschulalter alles zerlesen, was mir in die Finger gekommen ist – und mit Vorliebe alte Sagen, Märchen und Abenteuergeschichten. Da kommt einem Phantastenkopferl wie dem meinen freilich ein dunkelroter See mitten im Moor grad recht. Was glaubt ihr, wie es in meinem Hirnkastel erst angefangen hat zu rattern, als mir meine Oma auf meine Frage, warum der See eigentlich „Kirchsee“ heiße, folgende Antwort gegeben hat: „Vor langer Zeit – noch bevor hier das Kloster Reutberg gestanden hat, hat es hier statt dem See eine gewaltige Burg gegeben. Eine Burg mit ein paar Häusern drum herum, einem mords Burggraben und sogar einer Kirch. Aber die Burgherren und ihre Weibsbilder waren recht böse Leut. Raubritter, die selber nichts gearbeitet, sondern die Bauernfamilien in der ganzen Gegend drangsaliert haben. Haben sie überfallen und sich genommen, was ihnen gerade gepasst hat. Die Leut haben sehr unter diesem Raubgesindel gelitten, weil sie sich nie sicher sein konnten, ob die Herrschaften nicht wieder angeritten kommen und ihnen alles wegnehmen, was sie selber eigentlich zum Leben bräuchten. Wehren konnten sich die Bauern auch nicht recht, weil die Halunken jeden sogleich erschlagen haben, der gegen sie aufgemuckt hat. Oft haben die Bauersfrauen geweint, weil sie ihre Kinder nicht sattbekommen haben, obwohl sie selber schon auf alles verzichteten. Ein kleines Bauernmaderl, vielleicht so alt wie du, hat das irgendwann nicht mehr ertragen, jede Nacht die Mutter vor Hunger, Sorge und Trauer um den erschlagenen Mann weinen zu hören. Als es wieder einmal so weit war, dass das Maderl nicht einschlafen konnte, weil ihr eigener Magen so geknurrt und nebenan die gute Mutter geschluchzt, statt geschlafen hat, da ist es aus seinem Bett geschlupft, hat ihre drei kleinen Geschwister gut zugedeckt und hat sich hinausgeschlichen in die Nacht. Barfuß und im Nachthemd ist das Maderl durchs Moor gelaufen und mit jedem Schritt in Richtung Burg ist ihre Wut größer geworden. Keine Furcht hat sie gehabt, obwohl ihr die Mutter immer eingebläut hat niemals ins Moor zu laufen – schon allein wegen der Sumpflöcher, in welchen man versinken kann. Wegen der giftigen Schlangen, die einen beißen, wenn man versehentlich auf sie tritt. Und freilich nicht zuletzt wegen der bösen Rittersleut, die mitten im Moor auf ihrer Burg hausen. Aber das war dem Maderl alles Wurscht in dieser Nacht, so eine mords Wut hat sie gehabt. Gerannt ist sie mit einer Windeseile, dass das Moor nur so nach allen Seiten davongespritzt ist und die Disteln und Ranken ihr die Wadel blutig gekratzt haben. Davon hat sie aber nichts gespürt und sie ist erst stehen geblieben als ihr der Burggraben voll Wasser den Weg abgeschnitten hat. Da ist sie dann gestanden, hat geschnauft und hinaufgeschaut zu den Mauern. Die Häuser und der schiefe Kirchturm waren dunkel, aber aus dem Burgsaal hat es herausgeschallt und geleuchtet und geduftet als wär das ganze Jahr Volksfest dort drin. Und wie sie noch schnauft vom Laufen und hinaufschaut zu den den Lichtern, da tritt ein Rittersmann ans Fenster und schmeißt einfach aus Lust an der Freud ein halbes gebratenes Schwein hinunter in den Burggraben und zwei Laib weißes Brot gleich hinterher. Das hat dem hungrigen Maderl den Rest gegeben. Sie ist mit ihren blutigen Haxen in den Burggraben hineingewatet und Tränen der Wut sind ihr aus den Augen geschossen. Sie hat hinaufgeschrien zu dem Fenster, dass sie sich schämen sollten, sich so aufzuführen, den armen Menschen das Essen zu stehlen und die Väter zu erschlagen. Und dass sie sich fortscheren und sich nie wieder blicken lassen sollen, sonst geschähe ihnen ein Unglück. Der Raubritter oben am Fenster hat erst verdutzt hinuntergeschaut und sich das Gesicht gerieben – ganz nüchtern war er sicher auch nicht. Dann hat er nochmal hinuntergeschaut und das kleine Maderl im Burggraben entdeckt, das dort im Hemderl stand und hinaufgeschimpft hat wie ein Rohrspatz. Er hat sich ihre Flüche und Verwünschungen eine Zeit lang angehört, das Kinn auf die Hände abgestützt. Und als sie einmal Luft hat holen müssen, da hat er einen alten Kirschkern aus seiner Backentasche geangelt und hat ihn mit einem Maul voll Spucke in hohem Bogen verächtlich hinunter gespuckt – und hätt das Maderl nicht einen Hupfer hinaus aus dem Burggraben getan, dann wär es vom Auswurf des bösen Mannes mitten auf den Kopf getroffen worden. Aber so platschte Spucke samt Kern in den Burggraben, genau in die rote Lache, wo das Blut vom Maderl sich mit seinen Tränen gemischt hatte.
Der Ritter wollt grad anfangen in ein höhnisches Gelächter auszubrechen, da ging ein Rütteln durch die Burgmauern. Erst zaghaft, aber dann immer stärker und stärker. Und statt eines Lachens, kam aus der Kehle des Ritters nun ein Schrei, der sich bald mit den Rufen und Kreischen der anderen Festgäste mischte. Denn vor den Augen des verblüfften Mädchens und unter einem gewaltigen Gedonner, Geschwalle und Getöse versank die lasterhafte Burg samt und sonders in den rötlich im Mondlicht aufschimmernden Fluten des Burggrabens. Genauso plötzlich wie das Spektakel begonnen hatte, so hörte es auch wieder auf. Mit einem letzten kleinen Gurgeln verschwand zuletzt die Spitze des krummen Kirchturms im Wasser, das sich nun vor den Füßen des Mädchens wie ein friedlicher See ausbreitete, als hätte es hier nie etwas anderes gegeben. Das Mäderl im Nachthemd stand noch eine ganze Weile wie benommen da. Erst als ein Frosch mit einem genüßlichen Bauchplatscher in den See hupfte und das Wasser kurz aufstob wie ein glitzernder Schleier, erwachte es aus seiner Erstarrung und tappte Schritt für Schritt zurück nach Hause. Als es am Morgen von der Mutter geweckt wurde, rieb das Mädchen sich erst den Schlaf aus den müden Augen. Was hab ich heut Nacht nur wildes getäumt, dachte es bei sich. Aber als es seine dürren Beinchen unter der Decke hervorstreckte, tat die Mutter einen Schrei – denn die Mädchenhaxen waren schwarz vom Moorschlamm und rot verkrustet vom Blut. Da erzählte das Maderl der Mutter, was letzte Nacht wohl geschehen sei, ein bisschen ängstlich, weil es freilich Sorge hatte, die Mutter würd ihr kein Wort glauben und gleich wieder in Tränen ausbrechen. Aber die Mutter wusch ihr wortlos die Kratzer sauber, fatschte die Beinchen ein, nahm die vier Kinder an die Hand und marschierte ohne auch nur eine Silbe zu sprechen mit ihren Lieben schnurstracks durchs Moor. Den Weg, den sie nahm, das ist der selbe, der schnürlgerade bis heut hier an den See führt und den wir so oft gehen. Und genau wie wir heut’ am End von dieser langen Geraden auf einmal am Ufer vom Kirchsee stehen, stand auch damals die Mutter mit ihren vier Kindern dort und blickte staunend aufs Wasser. Keine Burg weit und breit zu sehen. Nur das kleinste der vier Kinder zeigte in die Mitte vom See und blubberte: „Kirse!“ – und tatsächlich: Als wollte der Himmel das Mäderl nocheinmal unterstützen, kam die Sonne hervor, ließ den See hellrot aufglühen, und in den hellen Wellen konnte die Mutter die Spitze des versunkenen Kirchturms erahnen… und während die Frau nun ausrief: „Eine Kirch im See!“, bückte sich unser tapferes Maderl und klaubte einen Kirschkern aus dem Wasser. Und jetzt frag ich Dich: Wie meinst Du, wird das Mädchen den See genannt haben? Genau – obwohl die meisten Leute unseren See hier wegen der versunkenen Kirche, die man manchmal noch sehen kann Kirchsee nennen, heißt er eigentlich Kirschsee. Weil wer, wenn nicht das tapfere Maderl hatt’ das Recht gehabt, dem See einen Namen zu geben…?!“